
Von Dylan C. Akalin
Es gibt Konzerte, bei denen der Raum mehr als nur Ort ist – er wird zum Resonanzkörper einer Atmosphäre, die sich weder allein aus Musik noch aus Stille speist, sondern aus dem Dazwischen. Ein solcher Abend war das Doppelkonzert von Wolfgang Muthspiel sowie Louis Sclavis & Benjamin Moussay am Samstagabend in der kleinen Kirche des Leoninums beim Jazzfest Bonn. Zwei musikalische Welten, die in ihrer Unterschiedlichkeit eine gemeinsame Tiefe fanden – getragen von der Intimität eines sakralen Raums, in dem jeder Ton nachwirkte wie ein Lichtstrahl auf eine unfertige Steinskulptur, die ihre Magie erahnen lässt.
Wolfgang Muthspiel – Architekt der Stille
Wolfgang Muthspiel beginnt den Abend mit einer Folge von Etüden für Solo-Gitarre – Miniaturen, die sich als Studien wie als poetische Erzählungen zugleich entfalten. Gleich zu Beginn, in „Etude Nr. 1 (Tremolo)“, lässt Muthspiel die Töne über vibrierende Flächen gleiten, mit einer ruhigen Hand und klarer Intention. Diese Etüden sind zwar als Fingerübungen entstanden – sie sind aber längst meditative Konstruktionen, in denen Klangfarbe, rhythmisches Feingefühl und harmonische Raffinesse miteinander verwoben sind.
Die Grundmotive und Techniken der Etüden stehen zwar fest, aber der Virtuose erweitert sie stets um kleine Improvisationen. Nach welchem Muster? Was geht da im Kopf des Künstlers vor? Ich frage ihn nach dem Konzert. Er sei da ganz in sich, erklärt er, aber grundsätzliche denke er bei seinen Improvisationen in Sounds, in Tönen, an einer Stelle etwa, wo die Gitarre flirrt und sich die Töne auffächern, da habe er an ein Cello gedacht, sagt er schmunuelnd.

Besonders in „Etude Nr. 8 (Melting Chords)“ und „Etude Nr. 10 (Sixths)“ zeigt sich Muthspiels Meisterschaft im Spiel mit klanglichen Schattierungen. Jeder Akkord war wie ein Atemzug, der sich im Raum ausdehnte. Bisweilen entfernt er sich auch vom Wohlklang seines Instruments, streicht über den Steg, lässt die Nylonsaiten scheppern, klopft auf die Zarge. Und dann blitzen auch immer wieder diese hammerschnellen Läufe auf, die an John McLaughlins Salven erinnern oder Al di Meolas rasantes Spiel .
Zwischen den Etüden sorgen Stücke wie „Triplet Droplet“ und „Roll“ für rhythmische Kontraste, fast wie ein Innehalten inmitten eines Flusses.
Berührend ist der Übergang zur barocken „Sarabande“ von Johann Sebastian Bach – gespielt mit jener Klarheit und Demut, die in Muthspiels Spiel stets mitschwingt. Die improvisierte „Between Two Sarabandes“ wird zur Brücke zwischen Jahrhunderten, ein Zwiegespräch von Komposition und freiem Ausdruck. Dass er zum Schluss „All My Loving“ von Lennon/McCartney wählt, war kein ironischer Bruch, sondern ein zärtlicher Ausklang – reduziert, schwebend, stark abstrahiert und am Ende doch voller Respekt für die Melodie.
Louis Sclavis & Benjamin Moussay – Impressionistische Klangreisen
Nach der Pause betreten Klarinettist Louis Sclavis und Pianist Benjamin Moussay die Bühne – und öffnen einen klanglichen Horizont, der gleichermaßen von impressionistischen Farbflächen wie von eruptiven Gesten durchzogen ist. Gleich das eröffnende „Unfolding“ spannt einen Bogen von freier Improvisation zu strukturierter Form – Sclavis’ Bassklarinette scheint zu flüstern, zu singen, zu schreien, während Moussay am mächtigen Fazioli F308-Flügel Linien nachzeichnet und zugleich Gegengewichte setzt, gelegentlich so dramatisch wie ein Stummfilmpianist.

Im Zentrum ihres Sets stehen Stücke, die Natur und Innerlichkeit miteinander verknüpfen – „Siete Lagunas“, „A Garden in Ispahan“ oder „Streams“ evozierten Bilder von Landschaften, ohne sich in Programmmusik zu verlieren. Bei „None“ meint man geradezu den Regen im Gebirge zu hören und die kühlen Nebelschwaden zu spüren. Bei „Siete Lagunas“ spielt Moussay sein Solo ausschließlich mit der rechten Hand und nutzt die volle 1,60 Meter breite Klaviatur, lässt das Monster beben und aufbäumen bis die Klarinette ins Spiel findet, sie das Thema unisono weiterspinnen. Besonders „L’étendue“ – das Weite, das Ausgedehnte – gerät zu einem Höhepunkt: Die Klarinette schraubt sich in hohe Lagen, das Klavier pulsiert darunter wie ein ferner Herzschlag.

Es ist eine Musik der Texturen und der subtilen Kontraste. Mal klingen Sclavis’ Bassklarinette und Moussay’s linke Hand wie ein dunkler Strom, dann wieder schweben helle Läufe über einem fast unhörbaren Grund. In „Snow“, dem letzten entschleunigten Stück, verweht die Musik wie feiner Staub im Licht – ein Ende, das keines sein wollte.
Zwei Stimmen, ein Raum
So unterschiedlich die beiden Sets sind – Muthspiels kontemplative Klarheit, Sclavis‘ und Moussay’s expressive Verdichtung – so sehr verbindet sie ein gemeinsames Anliegen: das Lauschen. Die Musik dieses Abends verlangt nicht nach Applaus, sondern nach innerer Resonanz. Kein Effektgewitter, kein virtuoses Spektakel – stattdessen das leise Staunen über Klang als Spur des Moments.
Setlist Wolfgang Muthspiel:
Etude Nr. 1 (Tremolo)
Etude Nr. 4 (Pedal)
Etude Nr. 5 (Chords)
Triplet Droplet
Etude Nr. 8 (Melting Chords)
Etude Nr. 9 (Schildlehen)
Etude Nr. 10 (Sixths)
Etude Nr. 11 (Vamp)
Etude Nr. 12 (Furtner)
Sarabande
(aus: Suite in g-Moll für Laute, Johann Sebastian Bach, BWV 995)
Between Two Sarabandes (Improvisation)
Roll
All My Loving (Lennon/McCartney)

Setlist Louis Sclavis & Benjamin Moussay:
Unfolding
L’heure de loup
Somebody Leaves
Siete Lagunas
None
L’étendue
Streams
A Garden In Ispahan
Snow