Calum Scott kann nicht nur kaum seinen reizenden Yorkshire-Akzent verbergen, der 34-Jährige ist Brite durch und durch. Natürlich entschuldigt er sich für einen winzigen, kaum hörbaren Patzer bei „Rise“, dem Eröffnungsstück zu einem wunderschönen, emotionalen wie beschwingten Konzertabend auf dem KunstRasen in Bonn. Meine Begleiterin sagte hinterher, es sei das beste Konzert gewesen, auf dem sie seit langem gewesen sei. Tatsächlich gehört Calum Scott ganz bestimmt zu den Live-Performern, die sich völlig hingeben in den Moment des Auftritts. Sein Konzert bietet wahrhafte Emotionen, eine ordentliche Portion Humor und exzellente Musikperformance. Begleitet von fantastischen Musiker*innen beweist der Mann dann auch noch, dass diese Stimme auch live hält, was sie auf den Alben verspricht: einen außerordentlichen Tonumfang und eine Stimmqualität, die von Stärke, Klarheit, wenn nötig einer charmanten Verhauchtheit geprägt ist.
„Reine Ehrlichkeit“ sollen seine Songs rüberbringen, mehr als pure „Vibrations“, und er werde sich „so verletzlich wie möglich machen“, verspricht er. „Wir werden euch zum Tanzen bringen – and we gonna macke you cry, cry cry …“
Er sollte in den gut 90 Minuten in jedem Punkt sein Versprechen halten. Calums Karriere startete 2015 bei der Castingshow „Britain’s Got Talent“. Und auch, wenn er nur sechster in dem Gesangswettbewerb wurde, seine Musikkarriere ist beeindruckend. Und die verdanke er seiner Schwester, sagt er. Seine Version von Robyns „Dancing On My Own“ beeindruckte damals nicht nur die Fernsehzuschauer, sie wurde auch seine Eintrittskarte ins internationale Musikgeschäft.
„Flaws“
„I’ll Be There“ bringt nicht nur Diamantenfunkeln auf die Bühne, sondern auch etwas Unbeschwertheit auf den Platz. „Last Tears“ mit dem fast murmelnden Introgesang ist ein wunderschönes Stück britischer Popmusik. Es gibt nicht viele, die so viel Schwung, ja, Funk in eine Ballade bringen können. Kreischalarm (ja, es waren viele echte Fans auf dem Rasen) gab es schon beim Piano-Intro zu „Biblical“. Es waren zwar nur etwa 2000 beim Bonner Konzert, doch das Publikum machte Krach für mindestens doppelt so viele. Calum spielt die stimmliche Zerbrechlichkeit zu Beginn des Stückes aus, um dann später mit einer hohen Kopfstimme loszulegen, dass man schon vergebens nach einer zweiten Sängerin sucht. Respekt!
Mit zunächst kehliger Stimme beginnt Calum „Flaws“ zu singen, diese Ballade, in der es darum geht, zu seinen Fehlern und zu sich selbst zu stehen, nicht irgendwelchen Bildern von Perfektion zu streben. Davor erzählt er von seiner Schwester („Beautiful insight and out“), die durch Hasskommentare eine schwere Zeit durchgemacht habe.
„Boys In The Street“ und „Bridges“
Der emotionale Moment des Abends war sicher, als Calum Scott vom Hintergrund zu den beiden Songs „Boys In The Street“ und „Bridges“ erzählt. Es ist die Geschichte vom Anderssein, vom Ausgegrenzt-werden, von Verzweiflung, aber auch von Outing und grenzenloser Liebe und Loyalität. Scotts Version von Greg Holdens „Boys in the Street“ ist sparsamer instrumentiert, der Fokus liegt voll auf der Stimme – und der Geschichte von dem Jungen, dessen Vater einfach nicht akzeptieren will, dass sein Sohn Jungs küsst. Am Sterbebett räumt er ein, dass es wohl auch Liebe unter Männern geben kann: „Is men only love women, but now I’m not sure/My son, keep kissing boys in the street“.
„Bridges“ erzähle eine wahre Geschichte von ihm selbst, erzählt Calum Scott. Es habe tatsächlich einmal eine Zeit gegeben, als er sich selbst auf einer Brücke wiederfand. „Ich war so furchtbar niedergeschlagen, weil ich anders war Ich wollte nicht mehr so weiterleben. Ich ging zu meiner Mom und erzählte ihr alles. Wir redeten die ganze Nacht. Wir brauchen solche Gespräche, wir brauchen in solchen Momenten, jemanden, der uns zuhört“, sagt er. Und genau das sei seine Intention für sein erstes Album „Only Human“ gewesen, und es sei das, was ihn als Sänger antreibe, diese positiven Nachrichten an jene weiterzureichen, die sich in einem Zustand der Dunkelheit befänden.
„You know I love you at your worst“
Keine Frage, seine Balladen sind tiefgründig und tragen eine Message in sich. Und diese Botschaften trägt er mit glaubwürdiger Authentizität über. Hinzu kommt Scotts bescheidene und aufrichtige Persönlichkeit, die er auf der Bühne präsentiert, und seine herzliche Interaktion mit dem Publikum. Er dankt den Bonner Fans immer wieder für ihre Unterstützung und zeigt sich dankbar für ihre Begeisterung.
Ein dynamischer Anfang, eine herzzerreißende Mitte – was kommt noch? Fast in a cappella beginnt er mit dem lebensbejahenden Maroon 5-Song „This Love“, um danach seine neue Single „At Your Worst“ vorzustellen, die erst an diesem Freitag herauskommt. Natürlich geht es auch in diesem leichtfüßigen Pop um eine Aussage: „And as long as my heart is beating
I’ll be there with you, please, believe me
You know I love you at your worst“.
Der Konzertabend bekommt einen Tanzblock mit „Where Are You Now“ und „Run With Me“, den die Fans laut feiern. Calum steht da vor weißen Lichtsäulen, während die Nebelmaschine läuft und alternierende Scheinwerfer von oben den Nebel wie eine sich bewegende Wolke erscheinen lassen, in der der Künstler steht. Überhaupt ist das Lichtspiel auf der Bühne sehr elegant gestaltet, häufig mit dominierenden Violetttönen. „If You Ever Change Your Mind“ ist so ein britischer TipToe-Pop, auf den Punk und geschmackvoll arrangiert.
„You Are The Reason“ und „Dancing on My Own“
Und dann kommt er natürlich, auch sein persönlicher Lieblingssong, der schon fast eine Milliarde Klicks auf YouTube hat: „You Are The Reason“ – und Bonn singt. „Whistle“ hat etwas von einem Rick-Astley-Song. Mit der wunderschönen Ballade „Heaven“ beendet Scott den Abend – um dann für die Zugabe herauszukommen. Für viele sicher ein unvergesslicher Moment des Konzerts. Scott sang „Dancing on My Own“, und die Menge sang und tanzte und sorgte für eine fantastische Atmosphäre. Ein würdevoller Abschluss für die Open-Air-Reihe KunstRasen Bonn 2023.
Support: Anny Ogrezeanu
Davor verblüffte Anny Ogrezeanu, die im vergangenen Jahr die 12. Staffel von „The Voice of Germany“ gewann, mit einem fantastischen Akustikset. Lediglich mit Klavierbegleitung bewies sie, was für eine ungewöhnliche Stimme und Begabung sie hat. Eindrucksvoll waren nicht nur die vielen Coverstücke, darunter Whitney Houstons „I Will Always Love You“, sondern auch ein eigener Song. Kein Wunder also, dass sie viel Applaus erhielt.
Setlist Calum Scott KunstRasen Bonn 2023:
RISE
I’LL BE THERE
LAST TEARS
BIBLICAL
FLAWS
BOYS IN THE STREET
BRIDGES
THIS LOVE
AT YOUR WORST WOKE UP IN LOVE
WHERE ARE YOU NOW
RUN WITH ME
IF YOU EVER CHANGE YOUR MIND
YOU ARE THE REASON
WHISTLE
HEAVEN
Encore:
Dancing By My Own