Der Progressive Rock erlebt eine Renaissance. Und für Aufsehen sorgt ausgerechnet eine Band aus Münster. Long Distance Calling legt mit „How Do We Want To Live?“ ein Album vor, das unter dem Eindruck des Lockdowns entstanden ist.
Von Dylan Cem Akalin
Es war der Drang auszubrechen, die Lust in völlig neue musikalische Welten vorzudringen und sich von althergebrachten musikalischen Schemata zu lösen. Rock muss sich doch nicht wirklich immer auf den Blues berufen. Ab Mitte der 60er Jahre suchen Bands wie die Beach Boys („Pet Sounds“), die die Beatles („Rubber Soul“), Frank Zappa, Cream, Procol Harum oder The Moody Blues die Rockmusik zu revolutionieren. Robert Fripp von King Crimson und Keith Emerson (Emerson, Lake & Palmer) bezeichneten die neue Ausdrucksform als Progressive Rock. In den 70er Jahren wurde der Stil von Bands wie Yes, Genesis, Camel, Gentle Giant, Jethro Tull, Kansas, Mike Oldfield, Procol Harum und einigen anderen Vertretern immer weiterentwickelt, es war die Zeit der Konzeptalben, die Zeit, Fragen zu stellen und sie musikalisch zu untermauern. Ihr Einfluss wirkt bis heute nach.
Long Distance Calling hat sich diese Einflüsse so zu Eigen gemacht, dass die Band aus den Wurzeln eine Eigenindentität wachsen lässt. Das tut sie außerordentlich geschickt, sodass nichts kopiert wirkt, ja, es klingt nicht mal nach Zitaten. Aber die Münsteraner machen klar, aus welchem Background sie kommen, woraus sie ihre musikalische Sprache entwickelt haben.
Bei ihrer fast ausschließlich instrumentalen Auseinandersetzung mit Themen wie Künstliche Intelligenz, das Verhältnis von Mensch und Maschine, humanistische Grundwerte und technologischer Fortschritt verleugnet das Trio somit auch nicht, dass sie ihre Wurzeln in den frühen experimentalen Tagen von Pink Floyd, Yes oder Mike Oldfield sieht.
Mehr als je zuvor arbeiten sie mit elektronischer Soundästhetik, die aber stets in handgemachte Instrumentierung eingebettet ist und die die Grenzen zwischen Post-Rock, Metal und klassischem Prog immer wieder verschwinden lässt. Dabei spielt Janosch Rathmer mit seinem präsenten und akzentsetzenden Schlagzeugspiel eine nicht unwesentliche Rolle, bei der er vom Bass Jan Hoffmanns unterstützt wird. Und glücklicherweise besinnt sich Long Distance Calling auch ihrer virtuos starken Präsenz der Gitarren von David Jordan und Florian Füntmann, um ihr kosmisches Drama mit berauschenden Kapiteln in Szene zu setzen. Das Album bietet sowohl Momente diamantklarer Schönheit als auch beunruhigender Bosheit, die von Vokal-Samples unterstützt wird.
“Curiosity is a real bastard“
Die Lust, aus Konventionen auszubrechen ist im 21. Jahrhundert dem Drang sich auszudrücken gewichen. LDC geht es nicht nur um künstlerische Konzeption. Und musikalisch blitzt gar noch ein Rest des frühen Pioniergeistes auf: “Curiosity is a real bastard“ („Neugier ist ein echter Bastard“) dröhnt eine metallische Männerstimme durch eine bedrohliche Synth-Wand, und bald wird die Klanglandschaft von Fluten schwellender Synthesizer wie aus einem Sciencefiction-Film durchdrungen, während die Männerstimme weiterhin die Natur und Funktion der Neugier erklärt als das grundlegende menschliche Merkmal, das im Grunde das Überleben der Menschheit ermöglicht hat. So beginnt das neue Album „How Do You Want to Live?“. In diesen beispiellosen Zeiten ist die Frage ergreifender als je zuvor. LDC beschäftigt sich in ihrer Musik mit aktuellenelementaren Fragen des Seins.
„Das Elektronische passt natürlich total gut zum konzeptionellen Überbau“ berichtet Schlagzeuger Janosch Rathmer. „Gleichzeitig ist es aber eine Elektronik, die wir selber bedienen und programmieren. Mit dem Ziel, dass auch diese elektronischen Elemente so homogen klingen wie Instrumente. Immer noch menschlich statt maschinell. Ebenso weit weg von Industrial wie von Techno. Und ganz besonders von dieser heutzutage typischen, einförmigen Elektronikästhetik, die dadurch entsteht, dass alle Studios und Produzenten die gleichen Plug-Ins nutzen. Wir wollten da lieber etwas haben, das eigener, spezieller ist.“
Das Erbe der Prog-Dinosaurier
Ja, es stimmt. Neugier kann uns an neue Orte, zu erstaunlichen Erlebnissen und zu technologischen Innovationen führen. Aber es kann auch echt wehtun, wenn nicht sogar tödlich sein, wenn wir nicht aufpassen. Das neue Album äußert also auch einige wunderschön komponierte Bedenken hinsichtlich dieser Dichotomie und behält gleichzeitig einen hoffnungsvollen Ausblick bei, was darauf hindeutet, dass Technologie und Dystopie nicht unbedingt Hand in Hand gehen müssen. Insofern ist das Album eine klare Hommage an das Erbe der Prog-Dinosaurier der 1970er Jahre: das Konzeptalbum.
Die zehn Songs sind thematisch miteinander verbunden. Und LDC schafft es meisterlich, ein Konzeptalbum zu konstruieren — völlig ohne Text. Naja, bis auf die Ausnahme „Beyond Your Limits“. Ansonsten sind in dem Album mit zahlreiche Voice-Over-Schnipsel verteilt. der Monolog des Agenten Smith aus „The Matrix“ (1999). Es ist der berühmte Monolog, der die menschliche Spezies mit einem Virus vergleicht.
Die Themen Neugier und Technologie werden sehr zutreffend durch die neuen elektronischen Elemente in der Klangpalette der Band unterstrichen. Ein tolles Werk!