Die Klarinette klingt bei ihm einfach anders. Sie hat überhaupt nicht diesen hölzernen, klagenden Sound, den man deshalb bei Bestattungen in New Orleans in der Frühzeit des Jazz so schätzte. Rolf Kühn ist einer der wenigen Interpreten, der der Klarinette einen coolen Charakter im zeitgenössischen Jazz verschafft hat. Am Mittwoch bewies die mittlerweile 92-jährige Jazzlegende im Haus der Geschichte, dass er von seiner Experimentierfreudigkeit und der Lust an der musikalischen Interaktion nichts verloren hat.
Von Dylan Cem Akalin
Joachim Kühn, der 15 Jahre jüngere Bruder des Klarinettisten, hat mir mal vor Jahren im Gespräch gesagt, Rolfs Klarinette sei die einzige, die er liebe. Beim Auftritt mit Pianist Frank Chastenier, Bassistin Lisa Wulff und Perkussionist Tupac Mantilla wird klar, was er meinte. Rolf Kühn hat die Klarinette vom Manierismus und Volkstümlichen befreit. Selbst wenn er geschmeidig und poetisch spielt, wenn er melodiöse Balladen anstimmt, wie etwa in der Bearbeitung von Joni Mitchells „Both Sides Now“ oder im Intro zu „Angel Eyes“, nimmt seine Klarinette keine einschmeichelnde Rolle ein. Rolf Kühn kann verletzliche Töne anstimmen, ohne den Anschein der Affektiertheit und Anbiederung zu erwecken.
Das Quartett spielte einige Stücke vom aktuellen Album „Yellow + Blue“, mit dem Titelstück eröffnete es den Abend, eine Komposition in dem das kammermusikalische Gerüst ordentliche Ecken und Kanten hat. Der Altmeister hat es mit den drei deutlich jüngeren Musikern aufgenommen. Chastenier reagiert auf jede Wendung des Chefs, egal, ob er mal bluesig, frei oder völlig versunken zarte Melodien entwickelt, während Mantilla sein Schlagzeug ausnahmsweise eher mild und mit den Händen bearbeitet.
Weltklasse-Musiker
Alle drei Musiker in Kühns Band sind Weltklasse. Die Vielseitigkeit Casteniers, der von kammermusikalischer Sensibilität über swingende Gewandtheit bis hin zu kraftvollen, hämmernden aufbrausenden Ausdrücken wirklich alles beherrscht, ist eine wichtige Kraft in der Band. Sein Spiel ist von beeindruckender unfehlbarer Dynamik und flüssiger Energie. Wulffs Bassspiel ist von empathischer, eigenständiger und verlässlicher Tatkraft. Und Tupac Mantilla? Ein Kraftpaket voller Ideenreichtum an den Drums. Wenn er und Wulff aufdrehen, dann muss Kühn ganz schön gegenhalten. Und das kann der 92-Jährige mühelos. Das ist atemberaubend zu beobachten, wie die vier Musiker sich auf der Bühne verständigen, wie sie sich ergänzen. Großartiges Duett: Nach der Pause begleitet Mantilla Kühn perkussiv – lediglich seine Hände und Füße gebrauchend. Er stampft, klopft, klatscht die Hände gegeneinander, gegen Beine, Brust und Gesicht. Einfach nur irre.
Rolf Kühn Spiel ist wie Bronze, eine Legierung aus verschiedenen Stoffen, das erst durch die Mischung mehrerer Materialien eine einmalige Ausstrahlungskraft entfalten kann. So wie Bronze erst durch Kupfer und einen bestimmten Anteil an Zinn eine hohe Festigkeit bekommt, bekommt Kühns Sound durch seine Erfahrung in Big-Bands des Swing, seine Erkenntnisse im Bebop und im Free Jazz, im Fusion und vielleicht nur weiterer Spurenelemente diese besondere Prägung. Hinzu kommen seine komplexen und rhythmisch vertrackten Kompositionen.
Schön ist der Standard „Body And Soul“, bei dem seine Klarinette streckenweise wie ein Sax klingt. Kühns eigene Stücke wechseln zwischen bedrohlicher Strenge („Alpha 47“), galoppierender, stakkatoartiger Kantigkeit („Lion’s Speech“), eleganter Akkuratesse („Train To Norway“) und fulminantem Fusion („Impulse“). Das Publikum feiert ihn mit langem stehendem Applaus.