Was macht ein Vollblutmusiker, dem es auf Dauer zu öde wird, Erfolg mit Hits zu haben, die aus maximal drei Akkorden bestehen? Im Falle von Jem Godfrey gründet er eine Progressive-Rock-Band, die Ästhetiken des britischen Pop überträgt auf anspruchsvolle Rockmusik. Jetzt hat Godfrey mit „13 Winters“ eine wunderschöne Werkschau seiner Band Frost* mit acht CDs herausgebracht.
Von Dylan Cem Akalin
Der Producer, Keyboarder und Songwriter Jem Godfrey schrieb 2005 ein halbes Jahr an Material und suchte den Kontakt zu John Mitchell, Sänger und Gitarrist von Bands wie Arena, The Urbane, Kino und derzeit auch von It Bites. Die Zusammenarbeit mit Mitchell sollte sich als gute Entscheidung herausstellen. Zusammen mit dem Bassisten John Jowitt (Arena, IQ und Jadis), Drummer Andy Edwards (Robert Plant und IQ) sowie Gitarrist John Boyes (Rook) wurde das Debüt „Milliontown“ aufgenommen und 2006 mit einigem Erfolg veröffentlicht. Die Band nannte er Frost* – mit Sternchen. Was das Sternchen zu bedeuten hat, wurde Godfrey gefragt. Seine Antwort: „Das ist ein Serviervorschlag.“ Jetzt hat Godfrey mit „13 Winters“ eine wunderschöne Werkschau mit acht CDs herausgebracht.
Die in Buchform mit anschaulichen Bildern, Texten und Lyrics versehene Veröffentlichung enthält Remasters der Alben „Milliontown“, „Experiments in Mass Appeal“, „Falling Satellites“ plus die Falling Satellites Instrumental-Version und Falling Satellites live sowie das auf dem Markt mittlerweile kaum zu kriegende „The Philadelphia Experiment“ (2017), die jüngste EP „Others“ und „This and That“ mit B-Seiten und andere Raritäten. Die kleine Box ist in einer Auflage von 3000 erschienen und kostet etwa 45 Euro. Wer da nicht rechtzeitig zugreift, ist selbst Schuld.
Ein wirklich kleines Juwel in diesem Paket sind die B-Seiten, die nirgendwo anders zu finden sind und mit „The Dividing Line“ beginnen, 16 Minuten wundervoller Musik.
Die sechs Songs auf „Others“ wurden während der Zeit geschrieben, als Frost* „Fallen Satellites“ geschrieben hatte, das ursprünglich als Doppelalbum herauskommen sollte. Die EP ist ziemlich lang und dauert etwas mehr als 30 Minuten. Mit dem kraftvollen Opener „Fathers“ zeigt Frost* sofort die Intensität dieser EP. „Others“ bietet komplexe, vielschichtige Tracks mit viel Dynamik, Hooks und Energie. Das dynamische „Exponat A“ enthält beispielsweise viele elektronische Elemente. Im krassen Gegensatz dazu erkundet ein Song wie „Fathom“ die verträumte Seite der Band. Obwohl die EP aus sechs Tracks besteht, ist ihre unglaubliche Vielfalt eine ihrer Stärken.
Die Musik ist sicher stark von Genesis geprägt. Nicht nur das Klavier auf „Drown“ (Others) erinnert frappierend an „The Lamb lies down on Broadway“. Dieser Crossover aus großartigen Pop-Sensibilitäten, hervorragenden Harmonien, 80er-Jahre-Soundstüffteleien im Geiste eines Trevor Horn (Jem schreibt selbst, dass ihn dessen Yes-Produktion „90125“ ungemein beeinflusst habe) und das Zusammenspiel von Keyboardlinien und Gitarre mit fetter Unterstützung der Drums in den Instrumentalparts wie etwa bei „Hyperventilate“ zieht sich durch alle CDs. Hinzu kommen plötzliche Wechsel von melodischen Parts zu dramatischen Ausbruchssteigerungen – das alles hat Genesis vielen Generationen von Neo- und Progrock-Musikern längst vorgemacht.
Bei Frost* werden nicht nur Prog-Traditionalisten vom Material überzeugt sein, sondern auch Freunde einer weniger puristischen Interpretation des modernen Rock und die zum Beispiel eine Durchmischung aus Electronica und der üblichen progressiven Instrumentierung durchaus zu schätzen wissen. Im Übrigen klingt hier und da auch die Experimentierfreude von King Crimson durch, und es gibt Rockepen zu entdecken zwischen The Prodigy, Elektro-Pop und Muse. Frost* bieten hochwertige Songs voller unwiderstehlicher Melodien mit akribischen klangvollen Details und feinen virtuosen Perlen auf erstaunlichen Klanglandschaften.
„Mitte der 2000er Jahre war Prog Rock eine völlig obskure Musikform, und das war ein weiterer Reiz, in diese Richtung zu gehen“, schreibt Godfrey im Begleitheft. Bei Frost* sei es ihm darum gegangen, nicht das zu tun, was alle anderen taten. „Ich wollte schnelle Sachen machen, die keine Mellotrons haben und die modern und zeitgemäß sind.“ Das ist ihm gelungen. Ein neues Album ist für 2021 in Vorbereitung, und ich freue mich schon darauf.