Dianne Reeves: „Ja, ich glaube an Wunder“

Von Diva-Verhalten keine Spur. Dabei könnte sie es sich leisten. Dianne Reeves gewann vier Grammys, bekam etliche Auszeichnungen, unter anderem wurde sie 2007 von der internationalen Jury des renommierten amerikanischen Magazins Down Beat zur besten Jazzsängerin gewählt. Damit gilt sie als ungekrönte Königin unter den Vokalistinnen des Jazz. Als wir sie kurz vor ihrem Auftritt in der Kölner Philharmonie in ihrer Künstlergarderobe treffen, ist sie die Ruhe selbst. Wasser, Cola, Tee mit Honig und eine Obstschale stehen bereit. Sie sitzt in lässiger knallgelber Bluse und mit schwarzen Lederhosen auf dem Sofa. Auf der Bühne wird sie später ein schwarzes glitzerndes Galakleid tragen, und das Publikum will nach dem Konzert kaum aufhören zu applaudieren. Zu Recht. Die 57- jährige Amerikanerin hat scheinbar keine Mühe, sich gegen eine glänzend aufgelegte WDR Big Band durchzusetzen. Die ausgefeilten Arrangements von Chefdirigent Michael Abene fordern ihr alles ab. Doch sie hat längst ein Stadium erreicht, wo sie sich trotz der Notentreue von der Erstarrung lösen kann, sich geradezu unverschämt lässig Freiräume abtrotzt. Ja, sie ist längst zur Ikone geworden. Und wenn Michael Abene die Schuhe auszieht und sich ans Klavier setzt, um mit ihr dieses zärtliche „Some Other Spring“ zu spielen, dann ist das ein unvergessener Moment. Nicht nur weil Abene ein wundervoll lyrisch aufspielender Pianist ist, sondern weil die Reeves diesem traurigen, intimen Liebeslied einen Anflug von Hoffnung einhaucht. Mit ihr sprach Cem Akalin.

Ich habe mich gefragt, was Ihren Gesangsstil so individuell macht.

Reeves Und?

Ich finde, dass Sie sogar dann positiv klingen, wenn Sie Liebeslieder voller Sehnsucht singen.

Reeves Ich weiß nicht, ob man das „positiv“ nennen kann. Mir geht’s darum, dass das, was ich singe, ehrlich klingt. Das ist das Wichtigste an der Musik: Ehrlichkeit.

Sie glauben, dass das das Geheimnis Ihrer Stimme ist?

Reeves Na ja, was heißt „Geheimnis“? Ich möchte jeden Song in dem emotionalen Zusammenhang wiedergeben, in dem er steht. Und dabei will ich auch einen Teil von mir in den Song einbringen. Und jeder Song ist anders.

Technisch sind Sie ohne Zweifel überragend, die Präzision, die perfekte Modulation in jeder Tonlage sind faszinierend. Aber wie schaffen Sie es, dabei auch noch Ihre persönliche Note in den Song zu übertragen?

Reeves Also, wenn Sie über meine Stimme reden, sprechen Sie über ein Instrument. Wenn ich über meine Stimme rede, spreche ich über mein Herz. Meine Stimme ist der Kanal, über den ich dem Publikum zeige, was ich wirklich fühle.

Die Texte der Lieder sind Ihnen also wichtig?

Reeves Extrem wichtig!

Sie legen jedes Wort auf die Goldwaage…

Reeves Es ist nur eine Idee, die Vorstellung eines Gefühls in einem Song. Und manche Worte brauchen eine bestimmte Betonung, um Emotionen rüberzubringen. (überlegt) Wissen Sie, Sie haben vielleicht Recht, dass ich ein positiver Typ bin. Ja, ich glaube an Wunder. Ich bleibe immer optimistisch. Aber wenn ich ein Lied singe, dann will ich genau das rüberbringen, was er aussagt.

 

 

 

Eines meiner Lieblingsstücke auf dem neuen Album ist „Cold“…

Reeves Hey, der ist wirklich irgendwie positiv. (lacht) Da geht’s drum, dass ich mich, nach all dem, was ich durchgemacht habe, fühle, als wäre ich am Ende der Welt angelangt. Aber dann sage ich mir: Es ist vorbei, es ist endgültig vorbei, und ich werde nicht wieder zu meinem Geliebten zurückkehren.

Wissen Sie, wenn Sie nur dieses eine Wort singen, „Cold“, dann kann man wirklich die Eiseskälte spüren, die Sie dem Mann da entgegenbringen…

Reeves (lacht) Darum geht’s! Die Gleichgültigkeit! Wenn Sie in einer Beziehung an diesem Punkt angekommen sind, dann wissen Sie, dass Gleichgültigkeit ein wirklich kalter Ort ist. Es ist ein harter Weg, den man bis dahin zurücklegen muss. Aber wenn man dort angekommen ist, dann können Sie sagen: Hey, ich bin endgültig fertig mit dir!

Wieso haben Sie diesen Song geschrieben?

Reeves Aus verschiedenen Gründen. Weil ich das Gefühl kenne. Weil viele das Gefühl kennen. Aber die Idee hatte ich, als ich einen Bericht im Fernsehen über das Ende eines berühmten Paares gesehen habe. Es ist ein Song über jemanden, der schon alles versucht hat, um seine Beziehung zu retten. Es hat immer wieder neue Anläufe gegeben, man hat dem anderen immer wieder eine neue Chance gegeben, man hatte Hoffnungen, man wird verletzt, dann wird man zornig. Nur irgendwann muss man sich eingestehen: Es läuft einfach nicht. Dann wird man gleichgültig, und das ist das Ende jeder Beziehung.

Sind Sie ein nachdenklicher Mensch?

Reeves Die Ideen kommen manchmal von den verrücktesten Orten. Ich habe mal einen Song geschrieben, der hieß „Old Souls“…

Der ist auf dem Album Art & Survival… Die Gedanken kommen von der „Weisheit der Winde, den Gesichtern in den Wolken“, wie es in dem Song heißt?

Reeves Man grübelt doch manchmal über Dinge, die plötzlich überall auftauchen: Man hört im Radio davon, sie sind in den Nachrichten, es sind Themen, über die du mit deinen Freunden und deiner Familie redest. Aber ich versuche, keine Bitterkeit, keinen Zorn aufkommen zu lassen. Ich brauche Frieden.

„Ich bin ein neugieriges Kind/ Auf die Welt gekommen durch einen Riss im Licht/ Doch Gott gab mir alte Seelen zur Seite, die mir den Nachhauseweg weisen“, heißt es da. Brauchen Sie auch Harmonie?

Reeves Harmonie, das klingt so nach… Wissen Sie, ich versuche, so gelassen wie möglich zu sein. Und in „Cold“ sage ich dem Typen: Ich bin nicht mehr böse auf dich. Ich wünsche dir alles Gute. Aber lass mich in Ruhe.

Diannes Reeves in der Künstlergarderobe der Kölner Philharmonie. FOTO: FRANZ FISCHER
Diannes Reeves in der Künstlergarderobe der Kölner Philharmonie. FOTO: FRANZ FISCHER

Wie gehen Sie an einen neuen Song, an ein neues Album ran?

Reeves Ich habe einen Entwurf im Kopf. Die Idee für das neue Album hatte ich schon vor Jahren, aber ich hatte nie die Zeit, das konzentriert anzugehen. Mit der Zeit entstehen immer Skizzen, Ideen für ein Stück, die ich niederschreibe. Ich habe dann mit Terri Lyne Carrington über meine Vorstellungen für das neue Album gesprochen…

Die Schlagzeugerin und Komponistin.

Reeves Ja. Und sie schickte mir ein paar Ideen für das Album, und nachdem wir uns eine Weile ausgetauscht haben, habe ich sie gebeten, das Album zu produzieren.

Sie haben auf Ihren Alben häufig Neuinterpretationen von Rock-, Soul-, Pop- und Latin-Stücken. Auf dem neuen auch wieder. Da ist Marvin Gayes’ „I Want You“ zu hören, Fleetwood Macs „Dreams“ und Bob Marleys „Waiting In Vain“. Nach welchen Gesichtspunkten wählen Sie sie aus?

Reeves Das sind einfach Stücke, die mir gefallen. Ich habe ganze Listen von Songs zu Hause, die ich mir einmal vornehmen möchte. Ich höre sie mir an und überlege, ob sie zu mir passen. „Dreams“ hatte ich schon wieder völlig vergessen, und es war die Idee von Robert Glasper, das Stück aufzugreifen und neu zu arrangieren.

Er hat Sie auf dem Song am Klavier begleitet.

Reeves Aber was er daraus gemacht hat, ist so hip, so neu, und es erlaubt mir, aus einem Liebeslied eher eine Art weisen Ratschlag zu machen, der sich an junge Leute richtet. Ich liebe den Song!

Sie haben auf früheren Alben auch einige Kompositionen der großartigen Joni Mitchell aufgegriffen: „Both Sides Now“ und „River“. Gibt es da eine Seelenverwandtschaft?

Reeves Wissen Sie, wir Jazzmusiker nehmen gerne populäre Themen auf und geben ihnen diese Jazzsensibilität. Ich liebe das Konzept, die Worte in den Songs. Es reizt mich einfach, solche Stücke für mich zu entdecken. Sehen Sie zum Beispiel Peter Gabriels „In Your Eyes“: Es ist dieselbe Melodie, derselbe Text – aber er klingt bei mir wie ein völlig neuer Song. Ich finde, der Song hat etwas von einem Gebet.

Was sagen Peter Gabriel oder Joni Mitchell zu Ihrer Interpretation?

Reeves Peter Gabriel habe ich nie getroffen, aber ich hörte, dass er begeistert war. Joni habe ich getroffen während eines Projekts mit Herbie Hancock, und sie sagte mir, dass sie sie liebte.

„Feels so Good“ ist der letzte Song, den Ihr Cousin, der Pianist, Keyboarder, Komponist und Produzent George Duke mit Ihnen aufnahm, bevor er im August starb. Was bedeutet Ihnen der Song? Singen Sie ihn live?

Reeves Oh, ja. Er war mein Special Guest, als ich im Februar in der Carnegie Hall auftrat. Zur selben Zeit war ich gerade im Studio, und ich bat ihn, auf „Feels so Good“ zu spielen. Er hatte die Idee, all seine alten Keyboards, wie das Moog, einzusetzen.

Da klingen tatsächlich die alten Sounds aus den 70er Jahren.

Reeves Das ist so wundervoll.

Er hat eine ganze Reihe von Ihren Alben produziert.

Reeves Ich habe zwei meiner vier Grammys mit George gewonnen. Er war ein außergewöhnlicher Mensch und ein fantastischer Musiker. Es gab kein Genre, wo er sich nicht zu Hause gefühlt hätte. Ich bin ja stark von der Musik der Ende 60er/Anfang 70er Jahre inspiriert worden. Heute sagt man Fusion dazu , und er war ein wichtiger Teil dieser Musikbewegung. Und wenn ich’s mir jetzt so überlege, dann muss ich sagen, dass mich diese Zeit natürlich geprägt hat: die Bürgerrechtsbewegung der 60er, die Proteste gegen den Vietnamkrieg, all die Songs von damals, die die Zeit so stark reflektiert haben.

George war ein Mensch mit einer geradezu zärtlichen Haltung…

Reeves Er war so brillant. Und wissen Sie was? Viele Menschen, die seine Fähigkeiten gehabt hätten, hätten ihr Ego nur so vor sich hergetragen. George war absolut nicht so. Er liebte alle Menschen, alle Künstler. Und er gehörte zu jener seltenen Spezies von Produzenten, die einem Künstler nicht ihren eigenen Stempel aufdrückten. Er tat alles, damit der Künstler glücklich war.

… und er konnte singen wie ein Engel. Hat er Ihren Stil irgendwie geprägt?

Reeves Natürlich. Er und mein Onkel waren meine Mentoren. Er hatte eine wundervolle Stimme. Er war etwas ganz Besonderes. Aber er hat mich in einer ganz anderen Weise geprägt, als Sie vielleicht denken. Er sagte immer: Vertrau deinen Instinkten! Geh deinen eigenen Weg! Du bist du! Er gab mir viel Selbstvertrauen.

Es ist interessant, dass dieser Song, dieses Gedenken an George Duke, auf diesem Album ist, das den Titel „Beautiful Life“ trägt. Zufall oder war’s eine bewusste Entscheidung?

Reeves Natürlich! Es geht mir nicht drum zu sagen, dass mein Leben schön ist, sondern das Leben allgemein. Es ist doch schön, dass wir jetzt alle miteinander interagieren können. Das Leben ist nun mal so, dass Triumphe genauso dazu gehören wie Trauer und Verlust. Das ist das Leben! Letztes Jahr verlor ich meine Mutter, Vada Swanson, meine Schwägerin Corine, Georges Frau, und dieses Jahr eben George. Zwei Monate später ist noch ein mir sehr nahe stehender Mensch gestorben.

Schrecklich.

Reeves Ich dachte, ich bin am Boden zerstört. Ich dachte, ich dreh durch. Sie haben mir alle sehr viel bedeutet. Irgendwie ist der Titel des Albums auch eine Reflexion auf diese persönlichen Verluste. Denn ich bin trotz der Trauer auch dankbar, dass ich sie kennen durfte. Ich bin letztlich ein Produkt ihrer Freundschaft und Liebe. Also dachte ich, dieses Album ist ein Gemeinschaftswerk.

Deswegen haben Sie noch Leute wie Gregory Porter, Lalah Hathaway und Sean Jones als Gäste auf dem Album?

Reeves Ja, es ist ein Album, wo Menschen zusammenkommen, und das ist das Wunderbare am Leben, nicht materielle Dinge. Es ist die Fähigkeit, etwas von dir zu geben, was dich ausmacht.

Sie sind ein lebensbejahender Typ!

Reeves Ja.

Ziehen Sie die Kraft aus Ihrer Kunst?

Reeves Aus dem, wie ich agiere. Aus der Zeit, aus der Musik der 60er und 70er Jahre, aus Liedern wie Paul McCartneys „Black Bird“, Bob Dylan-Songs… Das sind Dinge, die Kraft geben. Der Glaube an die Macht der Musik, der Glaube an die Liebe, die Menschen verändern kann. Auch wenn das sehr klischeehaft klingt: Aber ich glaube daran.

Diannes Reeves im Gespräch mit Cem Akalin. FOTO: FRANZ FISCHER
Diannes Reeves im Gespräch mit Cem Akalin. FOTO: FRANZ FISCHER