Endlich auf CD: Keith Jarrett führte 1987 das erste Buch des „Wohltemperierten Claviers“ von Johann Sebastian Bach auf

Keith Jarrett FOTO: ecm/Rose Anne Colavito

Im Februar 1987 nahm Keith Jarrett am Klavier das erste Buch des „Wohltemperierten Claviers“ von Johann Sebastian Bach auf. Es war die erste in einer Reihe von gefeierten Bach-Aufnahmen, die er für ECM machen würde. Eine bislang unveröffentlichte Live-Aufnahme dieser Sammlung von Präludien und Fugen erscheint jetzt endlich auf CD.

Von Dylan Cem Akalin

Der Jazz hat die Klassik früh entdeckt. Seit Benny Goodman um 1930 mit „Bach Goes to Town“ den alten Johann Sebastian zum Swingen brachte, geht der große Komponist des Barock durch die Jazzdecke. Django Reinhardt verarbeitete ebenso Bach’sche Werke auf der Gitarre wie Eddie South oder Stéphane Grappelly, Stan Kenton oder Lennie Tristano. Das Modern Jazz Quartet nahm Bach in sein Programm, Charlie Parker, so sagt man, lernte vom alten Meister die Oktavverschiebung, womit Melodien interessanter und intervallischer wurden. Und der amerikanische Saxofonist Joshua Redman behauptet gar, ohne Bach könne man überhaupt keinen Jazz spielen. Jacques Loussier bearbeitete das Bach‘sche Präludien- und Fugenwerk für eine LP mit dem Titel „Play Bach“. Das war 1959 so erfolgreich, dass er gleich drei weitere „Play Bach“-Platten nachschob.

Mit der Klassik beschäftigt sich Keith Jarrett auch schon lange. 1980 bringt er die „Sacred Hymns of Georges I. Gurdjieff“ heraus, Werke des von Folklore und Spiritualität geprägten zeitgenössischen Komponisten. Es folgten weitere ähnliche Veröffentlichungen, und seine Auseinandersetzungen mit Werken Händels, Mozarts, Bartoks, Schostakowitsch’, Barbers, Pärts und anderer überzeugten sogar Klassik-Puristen. 1987 dann „J. S. Bach: Das Wohltemperierte Klavier, Buch I, BWV 846-869“, 1989 die Goldberg-Variationen BWV 870-893 mit Keith Jarrett am Cembalo, 1990 „Das Wohltemperierte Klavier, Buch II, BWV 870-893“.

Live in der Troy Savings Bank Music Hall

Am 7. März 1987, kurz vor der Veröffentlichung der Studio-Aufnahmen, führte Jarrett das komplette WTC-Buch I vor einem Publikum im Bundesstaat New York in der Troy Savings Bank Music Hall auf, einem Veranstaltungsort, der für seine hervorragende Akustik bekannt ist. Mit dieser Veröffentlichung präsentiert ECM erstmals eine archivierte Live-Aufzeichnung dieses Konzerts.

Als sein Studioalbum des WTC-Buches I veröffentlicht wurde, überraschte Jarretts Art in diesen ikonischen Präludien und Fugen viele Zuhörer mit seiner interpretatorischen Zurückhaltung, da er ja als Jazz-Improvisator bekannt war.  Jarrett vermeidet jede Art von interpretatorischem Zierrat. Für Jarrett völlig ungewöhnlich: Er stellt nicht seine eigene Virtuosität in den Vordergrund, zelebriert nicht wie sonst seine künstlerische Exzentrik, sondern fühlt sich einzig und allein dem puren Werk verpflichtet, dem, was er in Bach als „den Prozess des Denkens“ erkennt. „Wenn ich Bach spiele, höre ich die Musik nicht, ich höre fast den Prozess des Denkens“, sagte er.

Makellos und ausdrucksstark

Indem er der Musik nicht seine eigene Persönlichkeit aufdrängt, lässt Jarrett die Partitur mit ihrer arteigenen Lyrik und dem tänzerischen Fluss in der Rhythmik aufleuchten. Dass er diese Eigenschaften in der Live-Situation mit der zusätzlichen Spannung durch die Anwesenheit des Publikums beibehält, ja, seine Individualität im Spiel sozusagen dem Werk unterordnet, macht die Aufnahme nur noch aufregender.  Es ist kaum zu fassen, dass Jarrett  diese Sammlung von Präludien und Fugen in allen 24 Dur- und Moll-Tonarten live spielt. Die Gleichmäßigkeit seines Spiels ist geradezu makellos und im Rahmen seines Ansatzes, sich an die Noten zu halten, so ausdrucksstark.

Die Freude, die er im Eröffnungsvorspiel in C-Dur BWV 846 vermittelt, ist noch grenzenlos enthalten. Jarretts Spiel suggeriert ein Bewusstsein für den Klang und die Aktion des frühen Cembalos und Clavichords, für die diese Präludien und Fugen geschrieben wurden. Die auserlesene Einfachheit balanciert auf diesem mustergültigen Ansatz.

Gelegentlich klingt das Spiel etwas träge, wie in der Fuge in cis-Moll, BWV 849, manchmal prosaisch. Aber wenn Jarrett in Bachs Universum der Anmut (Präludium in E-Dur, BWV 854) tritt, seine einfache Freude (Fuge in E-Dur, BWV 854) aufgreift oder die Grenzen des Staccato-Ausdrucks auskundschaftet (Präludium in e-Moll, BWV 855), dann ist die Kunst auf höchstem Niveau.

Präludien und Fugen in allen 24 Dur- und Moll-Tonarten

J.S. Bachs Wohltemperiertes Klavier ist eine Sammlung von zwei Büchern mit Präludien und Fugen in allen 24 Dur- und Moll-Tonarten. Seit jeher ist diese Musik sowas wie ein Leuchtturm für Komponisten von Mozart, Beethoven und Chopin bis Brahms, Schostakowitsch und viele andere. Die Musik ist ebenso ausdrucksstark wie lehrreich und die Sammlung gilt allgemein als eines der wichtigsten Werke der klassischen Musikgeschichte. Das Wohltemperierte Klavier hat die Herangehensweise nicht nur für den Pianisten, sondern allgemein für die Komposition umfassend überarbeitet.

Keith Jarrett:
J.S. Bach: The Well-Tempered Clavier, Book I
Live
2 CD
Label: Ecm Records (Universal Music) bei Amazon

Zur Person: Keith Jarrett

Der Pianist, Komponist und Bandleader Keith Jarrett ist einer der produktivsten, innovativsten und ikonoklastischsten Musiker des späten 20. Jahrhunderts. Als Pianist (obwohl dies keineswegs das einzige Instrument ist, das er spielt) veränderte er die Konversation im Jazz buchstäblich, indem er eine völlig neue Ästhetik der Soloimprovisation im Konzert einführte. Obwohl Jarrett in der Lage ist, in einer Vielzahl von Stilen zu spielen, von klassischer bis zu Volksmusik, ist er tief in der Jazztradition verwurzelt. Er hat über 80 Alben als führender Jazz- und Klassiker aufgenommen. Und er hat die Down Beat Critics Poll als Pianist mehrfach gewonnen, unter anderem zwischen 2001 und 2008. Sein Solo-Klavieralbum The Köln Concert von 1975 ist das meistverkaufte Soloalbum in der Jazzgeschichte und das meistverkaufte Klavier aller Zeiten Album.

Jarrett wurde am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren. Im Alter von drei Jahren begann er Klavier zu spielen. Mit acht Jahren begann er das Studium der klassischen Musik und mit 15 Jahren studierte er Komposition, bevor er nach Boston zog, um kurz am Berklee College of Music zu studieren. Noch als Teenager wollte Jarrett seine akademische Arbeit in Paris vorantreiben, bevor er sich 1964 entschied, nach New York zu ziehen und Jazzmusiker zu werden. Er lehnte ein Studium bei Nadia Boulanger in Paris ab und machte 1964 den entscheidenden Schritt, nach New York zu ziehen, um sich in der Jazzwelt zu etablieren. Nach einer Tournee mit Art Blakeys New Jazz Messengers stieß Jarrett 1966 zu Charles Lloyds Quartett. 1970 und 1971 spielte er zusammen mit Miles Davis Orgel und E-Piano.